Robert Naumann


Chaussee der Enthusiasten

Freitag, 2. Dezember 2011

Ein frühes Meisterwerk





















Neulich beim Aufräumen diesen Brief gefunden, den ich siebenjährig und im Internat wohnend an meinen Bruder schrieb. Rätselhaft ist, weshalb der Brief sich in meinem Besitz und nicht dem meines Bruders befindet. Aber dieses Rätsel soll hier nicht gelöst werden.
Ich habe mal versucht, den Text als möglichst neutraler Leser zu analysieren und zu rezensieren. Dazu habe die einzelnen Sätze mal genauer unter die Lupe genommen. Hier das Ergebnis:

Lieber Felix!
Lieber Felix, ich hoffe, dass du in drei Wochen noch gesund bist.

Auffällig ist die Wiederholung der Anrede im ersten Satz, offenbar ein frühes Stilmittel des jungen Autors. Merkwürdig erscheint der zeitlich so genau definierte Wunsch nach der Gesundheit des Bruders. In drei Wochen. Der erste Gedanke, der sich einem aufdrängt: in drei Wochen fährt der Autor des Briefes nach Hause und möchte sich nicht anstecken. Es ist also vor allem der Wunsch nach der eigenen Gesundheit, der zwischen den Zeilen zu lesen ist. Womöglich erste Anzeichen von Egozentrik, die der Autor hier sprachlich noch zu verdrängen versucht.
Diese These bekommt allerdings Risse, wenn man das Datum des Briefes genauer betrachtet: der 21.11.1980. Da die Weihnachtsferien aber erst am 20.12.1980 beginnen, würde eine gute Gesundheit des Bruders in drei Wochen dem Autor wenig nützen. Ist es also vielleicht ein etwas ungelenker erster Versuch, seine Texte mit Humor zu würzen? Wenn man aber von der Matheschwäche des Autors weiß, bekommt These Nummer Eins doch wieder deutlich Aufwind.

Ich habe einen Untersetzer aus Perlen gemacht.

Diese Information hängt ein wenig hilflos zwischen dem einleitenden Wunsch nach Gesundheit und der folgenden, deutlich emotionaler und farbiger gestalteten Schilderung der Vorfreude auf das Zuhause. Und doch blitzt hier auf, was den späteren Autor auszeichnet: das Lakonische, der Verzicht auf schmückendes Beiwerk, das bedingungslose Komprimieren des Satzes, bis dieser kaum noch Luft bekommt.

Ihr wißt ja, dass am 20. Dezember Ferien sind, große Weihnachtsferien, da freue ich mich sehr darauf, weil wir da wieder beisammen sind. Ich freue mich auch sehr darauf, wenn ihr mir erlaubt, dass wir mit dem Schlappohr Geburtstag feiern, ich habs ja in der Karte geschrieben.

Ein ganz anderer Autor scheint plötzlich am Werk. Eine emotionale Wucht und sprachliche Tiefe reißen den Leser unweigerlich mit und lassen ihn teilhaben an der schier überbordenden Freude des Knaben. Der Brief wendet sich nun an die ganze Familie und schon mit der Einleitung: "Ihr wißt ja", baut der Autor geschickt und wie nebenbei eine Brücke zu seinen Eltern und Geschwistern, indem er ihnen klarmacht: Ich bin von euren intellektuellen Fähigkeiten überzeugt. Spprachlich ist das ganze wie aus einem Guß, und die dezente Verwendung von Aliterationen - "weil wir da wieder" - lässt bereits das große Potential des Autors erahnen.
Nachdenklich macht das auf Unsicherheit und Ängstlichkeit hindeutende eingeschobene "wenn ihr mir erlaubt". Wenn der Junge sich nicht einmal sicher ist, ob die Eltern etwas so Harmloses wie die Geburtstagsfeier eines Plüschtiers erlauben, scheinen übertriebene Strenge und Autorität der Eltern seine Kindheit bestimmt zu haben.
(Liebe Eltern, falls ihr hier mitlest: ist nur Spaß!)

Mir gefällt es im Internat sehr und ich spiele auch gut.

Hier knüpft der Autor an den Stil von "Ich habe einen Untersetzer aus Perlen gemacht" an. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Wörtchen "auch" den Satz mit enormer Spannung auflädt. Liest man "auch" betont, will der Junge darauf hinweisen, dass er den anderen Kindern in Sachen Spielen in nichts nachsteht. Unbetont gelesen will der Satz nur mitteilen, dass ihm nicht nur das Internatsleben, sondern auch das Spielen Freude bereitet. Die Interpretation überlässt der Autor dem Leser. Das ist ohne Wenn und Aber moderne Literatur allererster Güte, statt eines verzehrfertigen Hamburgers, der zwar satt, aber nicht glücklich macht, werden dem Leser die Zutaten für ein exquisites Mahl vorgesetzt, doch kochen möge er allein. Intelligenz und Kreativität vorausgesetzt, erwartet den modernen Literaturfreund eine Geschmacksexplosion, ein unvergeßliches Fünf-Sterne-Menü, das Schuhbeck, Witzigmann und Co. wie minderbegabte Schulkantinenköche aussehen läßt.

Heute hatten wir eine Grammatikarbeit geschrieben, ich zensier es euch mal. Ich hatte auch mit eine 1.

Dass Egozentrik und Bescheidenheit keine unüberbrückbaren Gegensätze bilden müssen, beweist der Autor mit dieser Information. Die Ergebnisse der Mitschüler sind ihm ebenso wichtig wie der eigene Erfolg, und der schnoddrig-lässige Ton von "Ich hatte auch mit eine 1" zeigt, wie wichtig dem Autor die Erkenntnis ist, dass es andere Kinder gibt, die ihm in Sachen Grammatik durchaus das Wasser reichen können, ohne dass er daran zugrunde gehen müsste.
Sprachlich ist das Ganze etwas bieder, aber nach den furiosen letzten Zeilen ist man fast froh, wieder in ruhigeres Fahrwasser geleitet zu werden und ein wenig Entspannung zu finden.

Wir mussten in Röhrchen pullern, dreimal und ich bin schon fertig und die anderen Kinder auch.

Wieder werden die Mitschüler nicht vergessen, auch wenn nachvollziehbarerweise das eigene formidable Ergebnis im Mittelpunkt steht. Und wieder wird der Leser im Dunkeln gelassen, die klare Sprache steht in krassem Gegensatz zum nebulösen und mysteriösen Inhalt. Waren die Toiletten kaputt? Oder mussten die Kinder Urinproben abgeben, weil sie möglicherweise alle krank waren? Und hat das etwas mit dem Wunsch zu tun, der Bruder möge in drei Wochen noch gesund sein?
Man muss schon sagen, leicht verdauliche Kost ist das nicht, was der Autor bietet. Konsalikleser sind an der falschen Adresse bei diesem Höllenritt durch den Dschungel der Gedanken- und Gefühlswelt eines gerade siebenjährigen Internatskindes. Man muss sich einlassen auf die komplexe und von Rätseln durchwobene Story und das eigene Gehirn muss mitunter Schwerstarbeit verrichten, aber am Ende wird man reichlich belohnt.

In Musik hat uns Frau Knaust 2 Geschichten von Til Eulenspiegel erzählt. Wir haben mit Frau Förster ein neues Märchen gelesen: Hans und der Riese.

Der Brief schließt mit unterschwelligen Literaturempfehlungen für die Familie. Vieles hat man erwartet, aber das ganz bestimmt nicht. Und das ist großartig. Der Erwartungshaltung des Lesers eine konsequente Absage zu erteilen ist so mutig wie brilliant. Mehr ist nicht zu sagen. Nur eines noch: Nun dreißig Jahre nach dem Verfassen des Briefes wird einem bewusst, dass der Autor mit dem dezenten Hinweis auf Til Eulenspiegel wahrscheinlich bereits andeuten wollte, in welche Richtung ihn sein literarischer Weg führen wird.
Ganz klar fünf Sterne von mir!

PS: Bitte um Hinweise, warum die Bilder oben nicht ordentlich nebeneinander stehen, sondern so blöd versetzt. Ich konnte die irgendwie nicht verschieben.

4 Kommentare:

CHP hat gesagt…

Zum PS: Du hast zwischen den Bildern ein <br> stehen. Wenn man den entfernt, sind die Bilder bündig.

Robert hat gesagt…

Danke. Habe allerdings kein
gefunden. Komisch.

Robert hat gesagt…

Noch komischer, dass jetzt das "
" in meinem Kommentar gelöscht wurde.

Robert hat gesagt…

Mann, dieses "br" mit den eckigen Klammern. Wird bei mir gelöscht.